Wenn ich in diesen Tagen an einem Spielplatz vorbeilaufe, dann beschäftigt mich der Gedanke, dass die Mehrheit der Kinder, die dort spielen, in ca. zwanzig Jahren einen Job ausüben wird, den es heute noch gar nicht gibt und den wir uns teilweise kaum vorstellen können. Für die beruflichen Werdegänge unserer Kinder werden die Karrieren ihrer Eltern wenig Orientierung geben können. Denn in den nächsten 10 Jahren wird sich die Welt technologisch stärker verändern als in den letzten 100 Jahren. Der Einsatz und die sprunghafte Weiterentwicklung von Quantencomputern, 5G, Künstlicher Intelligenz, Blockchain, 3-D-Druck, Internet der Dinge, synthetischer Biologie und weiterer Grundlagentechnologien wird unsere Wirtschaft, unsere Arbeitswelt sowie unser gesellschaftliches Leben massiv verändern. Schon jetzt beklagen Soziologen und Technologen gleichermaßen, dass die „Technological Divide“, also die Kluft zwischen den technologisch Qualifizierten und den technologisch Abgehängten, gefährlich groß ist und in den kommenden Jahren ohne entsprechendes Gegensteuern weiter anwachsen wird. Die gegenwärtige Pandemie mit den Bildungsausfällen verstärkt diesen Effekt zusätzlich. Das tut keiner Gesellschaft gut. Schon jetzt haben wir es mit der Gleichzeitigkeit von Arbeitslosigkeit auf der einen und Fachkräftemangel auf der anderen Seite zu tun. Ein ausgeprägter Fachkräftemangel ist nicht nur in Bereichen der Pflege und des Handwerks zu verzeichnen, sondern insbesondere auch in nachgefragten IT- und Technologiejobs. Doch die Qualifizierungslücke zwischen denen, die Arbeit suchen und den Anforderungen der offenen Stellen ist für viele unüberwindbar groß. Sie trauen sich offenbar nicht zu, gänzlich neue Kompetenzen zu erlernen. Daher ist es nur konsequent, dass die Forderung nach „lebenslangem Lernen“ immer lauter wird. Doch wo genau muss man ansetzen, um diese „Superkompetenz des 21. Jahrhunderts“ wirkungsvoll zu fördern? Ich persönlich bin von zwei Thesen überzeugt, die miteinander zusammenhängen:

  • Erstens: Lebenslanges Lernen ist eine erlernbare Kompetenz, die bereits frühkindlich gezielt gefördert und entlang aller Altersstufen aufrecht erhalten werden muss.
  • Zweitens: Wir brauchen einen grundlegenden Paradigmenwechsel, welche Leistungen von Bildungssystem, Gesellschaft und von Arbeitgebern mit Applaus bedacht werden. Kurzum: Wir müssen überdenken, was als „sexy“ gilt.

Hier ein konkretes Beispiel, was ich meine: Werfen wir erneut einen Blick auf Kinder und frühe Prägungsmechanismen, die junge Schüler bereits in der Grundschule erfahren: Die Lehrer honorieren fehlerfreie Leistungen, indem sie beispielsweise für ein makelloses Diktat die Note „Eins“ vergeben. Außerhalb des Klassenzimmers ernten die gleichen Schüler dann die Anerkennung ihrer Mitschüler, wenn sie exzellente Fußballspieler oder Skifahrer sind – ein Ergebnis von kontinuierlichem Training in der gleichen Sportart. Daraus nähren junge Menschen ihr Selbstbewusstsein. Hingegen werden „Anfängerschritte“ in einer neuen Disziplin, die naturgemäß zunächst mit Fehlern einhergehen, eher mit spöttischen Blicken bedacht. Ein Schüler im Teenageralter, der im Skilager im Schneepflug den anderen Mitschülern hinterherfährt, weil er das erste Mal auf Skiern steht, gilt als „wenig sexy.“ Er wird nicht etwa für seinen Anfängergeist bejubelt, sondern für die wackeligen ersten Fahrversuche und gelegentlichen Stürze belächelt. Kinder lernen also früh: Perfektion schlägt Anfängergeist. Honoriert werden makellose Abläufe und fehlerfreie Leistungen. Sanktioniert hingegen werden gezeigte Unsicherheit und Fehler, die jeden Anfänger begleiten. Mit dieser Sozialisierung starten junge Menschen später ins Berufsleben und sammeln ähnliche Erfahrungen: Bewerber mit geradlinigen Lebensläufen, die fundierte Erfahrung auf einem bestimmten Gebiet widerspiegeln, werden als interessant befunden. Lebensläufe hingegen, die von mehreren Neuanfängen geprägt sind, werden oftmals bereits in der Vorauswahl aussortiert.  Da verwundert es nicht, dass die omnipräsente Forderung nach lebenslangem Lernen viel zu oft in der Theorie gefordert und in der Praxis nicht umgesetzt wird. Was wir daher dringend benötigen, ist ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel, wie wir von Kindesbeinen an die Lust, etwas Neues zu erlernen, gezielt fördern und Anfängergeist in allen Altersklassen und Lebensphasen honorieren. Natürlich geht es weiterhin auch darum, Spitzenleistungen zu incentivieren, für die fundierte Erfahrung und jahrelanges Üben und tiefe Expertise erforderlich bleibt. Aber ebenso wichtig ist es, eine „Do-what-you-can’t“-Einstellung zu vermitteln und Anfängerschritte in neuen Disziplinen mit Wertschätzung zu bedenken. Wir sollten anfangen, Menschen zu applaudieren, die sich trauen, wieder blutige Anfänger zu sein, Fragen zu stellen, Fehler zu machen und persönliches Neuland zu betreten. Mit viel Lust auf Neues, ohne Angst vorm Scheitern. Wir sollten honorieren, wenn sich Menschen aus ihrer persönlichen Komfortzone hinauswagen, weil genau dort Wachstum und Lernprozesse stattfinden, die erforderlich sind, um sich in unserer volatilen und dynamischen Welt weiterhin zurecht zu finden. Wir sollten uns von gedanklichen Altersgrenzen, die sich in unseren Köpfen meist unbewusst festgesetzt haben, frei machen. Wir können mit 40 noch Reiten, mit 50 noch Chinesisch und mit 60 programmieren lernen und mit 70 Jahren uns das erste Mal auf einem Datingportal anmelden, um die Liebe unseres Lebens zu finden. Neues erlernen bedeutet, zu leben. Und das Leben endet nicht mit 25. 

Kommen wir wieder zu Kindern zurück: Als ich neulich am Spielplatz war, sah ich eine Großmutter in ihren späten Siebzigern, die nach dem Spielen mit ihren Enkeln ihren Helm aufsetze und ihren beiden kleinen Enkeltöchtern auf einem Tretroller hinterherfuhr. Es war eine offenkundig wackelige Fahrt, keine Perfektion, sichtbar wenig Erfahrung, dafür Unsicherheit. Doch ich konnte nicht anders als applaudieren und wertschätzend denken: „Cool.“ Denn lebenslanges Lernen – egal in welchem Lebensbereich – ist eine Frage der persönlichen Haltung, nicht des Alters.